Roland Scotti

Ernesto Baltiswiler: Welt aus Farbe

Ernesto Baltiswiler gehört zu jenen Künstlern, deren Werk sehr gegenwärtig bleibt – selbst, wenn sie gelegentlich von der Bildfläche verschwinden. Baltiswiler war in den 1980er und 1990er Jahren in der Kunstwelt ein fester Wert – bis er dann einen radikalen Bruch vollzog. Er setzte das, was in seiner Malerei schon immer da war, in die Realität um: ein Zurück zur Natur, besser: ein Sich-der-Natur-Aussetzen. Wobei auch das nur ein Bruchteil der Wirklichkeit ist, denn weit wichtiger ist, dass der Künstler sich seit seinen Anfängen, der Farbe, der Form und der Erinnerung ausgesetzt hat. Oder wie schon 1992 – fast kongenial – der Kunsthistoriker Ulrich Krempel festhielt: „Die Harmonien der Bilder, die dabei entstehen, entstammen dem Weltbild eines Künstlers, der in sich alles Gesehene neu erschafft und der dennoch, der Plötzlichkeit der Dinge nachgebend, auch den neu entstehenden malerischen Dingen ihre Selbstständigkeit und eigenen Entwicklungen belässt.“

Um 2008 kehrte Baltiswiler, der aus Zweifel, nicht aus Verzweiflung, zum Einsiedler geworden war, zurück – noch nicht aus der Einsamkeit Finnlands, das geschah erst 2020 mit dem Umzug aus Seglinge/Åland nach Wilderswil/Kanton Bern – aber ins Gebiet der Kunst, nun auch vermehrt mit Malerei auf Papier, jenem Bildträger, der mehr Experiment, mehr Suche, mehr Selbstvergewisserung erlaubt.

Und es ist, als hätte es keine Pause, keine Lücke gegeben. Was in dieser Pauschalität selbstverständlich nicht stimmt – denn es gibt Entwicklung, besser Veränderungen in der jeweiligen Erscheinung von Farbe und Form, aber nicht in der grundsätzlichen Haltung des Künstlers, nicht in seiner Sensibilität und Offenheit gegenüber jenen Ereignissen, welche das künstlerische Material, fast selbsttätig, zum Wirken bringt – traditioneller ausgedrückt: zum Sprechen bringt.

Wollte man einen Wandel in der künstlerischen Arbeit von Ernesto Baltiswiler festhalten, so wäre dies eine Nebenbemerkung: Es scheint, als ob der Künstler nun nicht mehr ausschliesslich Natur, gesehene und erlebte Eindrücke in eigenständige Bilder transformiert, sondern gleichwertig auch Kunstgeschichte be- und verarbeitet. Eine Werkreihe wie Moderne Kunst (2014; 20 Gemälde) scheint dies allein aufgrund des Titels zu bestätigen – nur: es war schon 1988 bei der Werkgruppe Herr Mondrian so. Baltiswiler verortet sein Schaffen schon immer in den Grenzzonen von unmittelbarer Erfahrung, reflektierter Wahrnehmung, kultureller Erinnerung und intendierter Transzendenz.

Das ist eine Methode, kein Konzept. Aus dem Gemenge von individuellem Leben, sich behauptender Subjektivität und den scheinbar objektiven historischen Momenten beziehungsweise den konkreten Situationen entwickelt der Künstler – zumindest für den Augenblick der Bilderzeugung oder, für mich wichtiger, jenem der Bildbetrachtung – Auswege, in gewisser Weise sogar Befreiungen. Das mag an der Transparenz des Farbauftrags liegen, das mag durch eine Formen- und Zeichenbewegung hervorgerufen werden, die jede scheinbare Mitteilung in ein allgemeines Narrativ überführt: Farbräume sind möglicherweise die letzten Zufluchtsorte oder Schutzgebiete menschlicher Wünsche, um nicht das missbrauchte Wort «Utopien» zu verwenden.

Gerade Werkgruppen wie Ending of Time – The Sicilian Paintings (2018; 19 Gemälde) oder In Conversation with Silence (2015; 62 Papierarbeiten) sind Manifestationen von Freiheit, einer Freiheit, die konzentriert und meditativ Regeln, eben eine Grammatik des Malens erfindet, weiterentwickelt und in komplexen Bildsprachen realisiert, die als Konkretionen eines träumenden Weltverständnisses gelesen werden können.


Roland Scotti

Kunstmuseum Appenzell, Mai 2022